Versteckte Gehirnwellen als Auslöser für postiktuales Umherirren / Bonner Forschende entschlüsseln Ursache für Symptome nach einem epileptischen Anfall
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Versteckte Gehirnwellen als Auslöser für postiktuales Umherirren / Bonner Forschende entschlüsseln Ursache für Symptome nach einem epileptischen Anfall


Im klinischen Alltag werden regelmäßig Symptome nach epileptischen Anfällen beobachtet, sogenannte „postiktuale Störungen“, die im Gegensatz zu der in der Regel kurzen Anfallsdauer zumeist mehrere Minuten bis Stunden dauern. Neben beispielsweise Verwirrung, Sprach- und Sprachverständnisstörungen kann ein Zustand der Desorientierung auftreten. Dieses gewahrlose Umherlaufen, fachsprachlich postictal wandering, ist teilweise lebensgefährlich, wenn zum Beispiel die betroffene Person desorientiert auf die Straße läuft. „Postiktuale Störungen werden traditionell auf den vorhergehenden epileptischen Anfall bezogen. Es ist allerdings unklar, ob tatsächlich ein direkter neurobiologischer Zusammenhang besteht oder die Störungen auf einer anderen Pathologie fußen“, sagt Korrespondenzautor Prof. Michael Wenzel von der Klinik für Epileptologie am UKB, der auch Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich (TRA) „Life & Health“ der Universität Bonn ist.

Gehirnwellen legen neuronales Netzwerk lahm
Das Bonner Forschungsteam wollte anfangs die Entstehung von Epilepsie infolge einer initialen Akuterkrankung besser verstehen – hier der Virusenzephalitis, eine durch Viren verursachte Gehirnentzündung. Dazu nutzten sie im Mausmodell moderne hochauflösende Fluoreszenzmikroskopie in Kombination mit Elektrophysiologie und Optogenetik, die es erlaubt, trennscharf im lebenden Gehirn Netzwerkdynamiken und die Kommunikation verschiedener Hirnzelltypen über Monate hinweg zu untersuchen. „Dabei fanden wir zufällig ein Netzwerkphänomen im Hippokampus - einer für Epilepsie relevanten Struktur im Innern des Schläfenlappens – fachsprachlich Temporallappen –, das postiktuale Störungen erklären könnte, allerdings überraschenderweise nicht Anfälle selbst darstellt“, sagt Erstautor Bence Mitlasóczki, Doktorand der Universität Bonn in der Arbeitsgruppe von Prof Wenzel am UKB.

Bei dem beobachteten Phänomen handelt es sich um langsame Depolarisationswellen, die hauptsächlich durch neurologische Erkrankungen wie Migräne oder akute Gehirnverletzungen bekannt sind. Bei dieser sogenannten Spreading Depolarization (SD) kommt es zum Zusammenbruch des neuronalen Membranpotentials und zu dem Ausfall des betroffenen Netzwerks für Minuten bis Stunden. Die Strukturen im inneren Bereich des Temporallappens wie dem Hippokampus könnten bei Auftreten epileptischer Anfälle sensitiver für SD sein als der multisensorische und motorische Teil der Großhirnrinde, der sogenannte Neokortex. „Das könnte auch erklären, warum postiktuale Symptome am häufigsten bei Temporallappenepilepsien beobachtet werden“, sagt Mitlasóczki. Außerdem werden SD Wellen im klinischen Standard EEG in der Epileptologie herausgefiltert, da sie so langsam sind. „Somit sind SD seit Jahrzehnten im klinischen EEG ‘unsichtbar’, was einen wichtigen Grund darstellt, warum das streng anfallsbezogene Konzept für postiktuale Störungen fortbesteht, obwohl dies womöglich gar nicht stimmt“, konstatiert Prof. Wenzel.

Anfallsassoziierte SD in Tiefenelektrodenaufnahmen von Menschen mit Epilepsie
Zudem fanden die Bonner Forschenden Hinweise, dass anfallsassoziierte SD auch in tiefen menschlichen Hirnregionen existieren. Dazu nutzten sie eine Besonderheit der prächirurgischen Diagnostik am UKB von Personen mit schwer behandelbarer Epilepsie, die prüft, ob ein lokaler Anfallsherd chirurgisch entfernt werden kann. Im Rahmen der Studie untersuchte das Forschungsteam bei initial einigen Teilnehmenden mittels den zur Diagnose implantierten Elektroden mit zusätzlichen Mikrodrahtbündeln - welche durch die Arbeitsgruppe um Co-Autor Prof. Florian Mormann am UKB etabliert worden sind - ob lokale SD auch im menschlichen Gehirn zu detektieren ist, sobald man die EEG Bandbreite über den internationalen Standard hinaus erweitert und so auch sehr langsame Potentialschwankungen erfassen kann.

Das Fazit der Bonner Forschenden ist, dass epileptische Anfälle, wenngleich seit Jahrzehnten so angenommen, womöglich nicht die direkte Ursache postiktualer Störungen sind. „Unsere Hypothese ist, dass lokale anfallsassoziierte SD einen Schlüsselfaktor in der Epilepsie darstellt, der bislang massiv unterstudiert ist“, sagt Co-Autor Prof. Heinz Beck vom UKB und DZNE. Er ist ein Sprecher des Transdisziplinären Forschungsbereichs (TRA) „Life & Health“ und Mitglied im Exzellenzcluster ImmunoSensation2 der Universität Bonn. Die Ergebnisse weisen auf eine mögliche allgemeine Rolle von SD in einer Vielzahl unterschiedlicher postiktualer Störungen hin, die nun weiter untersucht werden müssen. „Zudem erfordern unsere Ergebnisse eine erneute Durchsicht bisheriger Studien, die, weil SD herausgefiltert wurden, Effekte und Effektgrößen auf epileptische Anfälle bezogen, obwohl dem möglicherweise gar nicht so ist“ sagt Prof. Wenzel. „Zuletzt könnte unsere Studie eine Debatte anstoßen, ob der internationale EEG Standard erweitert werden muss, um SD auch im klinischen EEG direkt sichtbar zu machen.“

Beteiligte Institutionen:
Neben UKB, Universität Bonn und DZNE waren das Forschungszentrum Jülich, die RWTH Aachen, die Tierärztliche Hochschule Hannover und die University of California (USA) an der Studie beteiligt.
Bence Mitlasóczki et al.: Hippocampal spreading depolarization as a driver of postictal ambulation; Science Translational Medicine; DOI: https://doi.org/10.1126/scitranslmed.adv3260
Attached files
  • Fluoreszenzmikroskopie: Aufnahme langsamer Depolariationswellen, sogenannte Spreading Depolarization (SD), nach einem epileptischen Anfall.
  • Gehirnwellen als Auslöser für postiktuales Umherirren:Bonner Forschungsteam um Prof. Michael Wenzel entschlüsselt Ursachen für auftretende Symptome nach einem epileptischen Anfall
Regions: Europe, Germany, United Kingdom, North America, United States
Keywords: Health, Medical

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