Aluminiumoxid ist die Fruchtfliege der Materialwissenschaft: gründlich untersucht und gut verstanden. Die Verbindung mit der simplen chemischen Formel Al2O3 kommt in der Form des Minerals Korund und seiner Farbvarianten Saphir und Rubin häufig in der Erdkruste vor – und wird für unterschiedlichste Zwecke eingesetzt, sei es in der Elektronik, in der chemischen Industrie oder in technischer Keramik.
Eine Besonderheit von Aluminiumoxid ist dessen Fähigkeit, bei gleicher Zusammensetzung unterschiedliche Strukturen anzunehmen. All diese Varianten sind ebenfalls gut verstanden – mit einer Ausnahme. Neben einer Reihe von kristallinen Formen kann Aluminiumoxid nämlich auch in einer amorphen, also ungeordneten Form vorliegen. Amorphes Aluminiumoxid hat besonders vorteilhafte Eigenschaften für einige High-Tech-Anwendungen, etwa in Form von besonders einheitlichen Schutzbeschichtungen oder ultradünnen Passivierungsschichten.
Trotz seiner weiten Verbreitung und dem Knowhow zu seiner Verarbeitung ist amorphes Aluminiumoxid auf atomarer Ebene noch ein Rätsel. «Kristalline Materialien bestehen aus kleinen, sich regelmässig wiederholenden Untereinheiten», erklärt Empa-Forscher Vladyslav Turlo aus dem Labor «Advanced Materials Processing» in Thun. Dadurch lassen sie sich relativ leicht bis auf ein Atom genau untersuchen – und am Computer modellieren. Denn wer die Interaktion von Atomen in einer einzigen Kristall-Einheit berechnen kann, kann auch ganz einfach grössere Kristalle aus mehreren Einheiten berechnen.
Amorphe Materialien haben keine derart periodische Struktur. Die Atome liegen mehr oder weniger wild durcheinander – schwer zu untersuchen und noch schwerer zu modellieren. «Wenn wir das Wachstum einer dünnen Beschichtung aus amorphem Aluminiumoxid auf atomarer Ebene von Grund auf simulieren würden, würde die Berechnung mit heutigen Methoden länger dauern als das Alter des Universums», so Turlo. Genaue Simulationen sind aber der Schlüssel zur effektiven Materialforschung: Sie helfen Forschenden dabei, ihre Materialien zu verstehen und deren Eigenschaften zu optimieren.
Genau simuliert und experimentell bestätigt
Empa-Forschenden unter der Leitung von Turlo ist es nun erstmals gelungen, amorphes Aluminiumoxid schnell, genau und effizient am Computer zu simulieren. Ihr Modell, das experimentelle Daten, Hochleistungssimulationen und maschinelles Lernen vereint, gibt Auskunft über die atomare Anordnung in amorphen Al2O3-Schichten und ist das erste seiner Art. Die Resultate haben die Forschenden in der Fachzeitschrift «npj Computational Materials» veröffentlicht.
Möglich wurde der Durchbruch dank einer interdisziplinären Zusammenarbeit mehrerer Empa-Labors. Turlo und sein Mitarbeiter Simon Gramatte, Erstautor der Publikation, stützten sich bei der Entwicklung des Modells auf experimentelle Daten. Forschende aus dem Labor «Mechanics of Materials and Nanostructures» stellten dafür amorphe Aluminiumoxid-Dünnschichten mittels Atomlagenabscheidung her und untersuchten sie gemeinsam mit dem «Joining Technologies and Corrosion»-Labor in Dübendorf.
Eine grosse Stärke des Modells: Es berücksichtigt neben den Aluminium- und Sauerstoffatomen des Aluminiumoxids auch eingeschlossene Wasserstoffatome. «Amorphes Aluminiumoxid enthält je nach Herstellungsmethode unterschiedlich grosse Anteile an Wasserstoff», erklärt Ko-Autor Ivo Utke. Wasserstoff ist das kleinste Element des Periodensystems und dadurch schwer zu messen und zu modellieren.
Dank einer innovativen Spektroskopiemethode namens HAXPES, die in der Schweiz nur an der Empa möglich ist, konnten die Forschenden den chemischen Zustand von Aluminium in den unterschiedlichen Dünnschichten charakterisieren und in die Simulation einfliessen lassen, um daraus erstmals die Verteilung des Wasserstoffs im Aluminiumoxid abzuleiten. «Wir konnten zeigen, dass sich der Wasserstoff ab einem bestimmten Gehalt an den Sauerstoff im Material bindet und so den chemischen Zustand der anderen Elemente beeinflusst», sagt Ko-Autorin Claudia Cancellieri. Das verändert die Materialeigenschaften: Das Aluminiumoxid wird dadurch «lockerer», also weniger dicht.
Durchbruch für grünen Wasserstoff
Dieses Verständnis der atomaren Struktur ebnet den Weg zu neuen Anwendungen von amorphem Aluminiumoxid. Das grösste Potenzial sieht Turlo im Bereich der Herstellung von grünem Wasserstoff. Grüner Wasserstoff wird durch Spaltung von Wasser mittels erneuerbarer Energien – oder sogar direktem Sonnenlicht – hergestellt. Um den Wasserstoff vom ebenfalls entstehenden Sauerstoff zu trennen, werden effektive Filtermaterialien benötigt, die nur eines der Gase passieren lassen. «Amorphes Aluminiumoxid ist ein enorm vielversprechendes Material für diese Wasserstoffmembranen», sagt Turlo. «Dank unserem Modell gewinnen wir ein besseres Verständnis davon, wie der Wasserstoffgehalt im Material die Diffusion von gasförmigem Wasserstoff im Vergleich zu grösseren Gasmolekülen begünstigt.» In Zukunft wollen die Empa-Forschenden anhand der Modellierungen gezielt Aluminiumoxid-Membranen herstellen.
«Ein atomares Verständnis unserer Materialien erlaubt uns, die Materialeigenschaften – sei es in Bezug auf Mechanik, Optik oder Durchlässigkeit – viel gezielter zu optimieren», sagt Materialforscher Utke. Das Modell kann nun bei allen Anwendungen von amorphem Aluminiumoxid zu Verbesserungen führen – und mit der Zeit auch auf weitere amorphe Materialien übertragen werden. «Wir haben gezeigt, dass eine genaue Simulation von amorphen Materialien möglich ist», resümiert Turlo. Und dank maschinellem Lernen dauert der Prozess nur noch rund einen Tag – anstelle von Milliarden von Jahren.
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Keywords: Applied science, Nanotechnology