-- GEMEINSAME PRESSEMITTEILUNG DES LEIBNIZ-ZENTRUMS FÜR ARCHÄOLOGIE (LEIZA) UND DER JOHANNES GUTENBERG-UNIVERSITÄT MAINZ --
Das niedersächsische Schöningen hat in der Archäologie Weltruf: Von hier stammt das eindrucksvollste Arsenal erhaltener Jagdwaffen der Altsteinzeit. Aufgrund der Bedeutung, die die Fundstelle für das Verständnis der Entwicklung der menschlichen Jagdbefähigung aufzeigt, wurde hier im Jahr 2013 das Forschungsmuseum "paläon" errichtet. Zusammen mit Geo- und Umweltwissenschaftlern unterschiedlichster fachlicher Expertise haben Archäologen des Leibniz-Zentrums für Archäologie (LEIZA) und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) nun erstmals Altersdatierungen direkt an Fundmaterial aus dem sogenannten Speer-Horizont in Schöningen vorgelegt. Auch das Geographische Institut der JGU war an den Arbeiten beteiligt. Die neuen Daten zeigen, dass das Alter der berühmten Jagdwaffen nach einer früheren Korrektur von 400.000 Jahren auf 300.000 Jahre nun abermals um etwa 100.000 Jahre auf ein Alter von 200.000 Jahre zu korrigieren ist. Ihre Ergebnisse haben die Forschenden kürzlich in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht.
Einzigartige Erhaltungsbedingungen haben in Schöningen die Überlieferung von hölzernen Speeren und anderen Geräten aus Holz begünstigt, vergesellschaftet mit Resten der Jagdbeute, die vornehmlich aus Pferden bestand. Zum Zeitpunkt der Entdeckung der ersten Speere Mitte der 1990-er Jahre wurde das Alter der Funde zunächst auf rund 400.000 Jahre geschätzt, später auf etwa 300.000 Jahre korrigiert. Diese Annahmen basierten auf den Altersabschätzungen über- und unterliegender Schichten, nicht aber auf Daten unmittelbar aus dem fundführenden Speer-Horizont selbst. Aufgrund dieser Unsicherheiten wurden über viele Jahre hinweg voneinander abweichende Altersansätze diskutiert.
Verfeinertes Analyseverfahren führt zu neuer Altersabschätzung
Zentral für den neuen Altersansatz ist ein von der Forschungsgruppe um Prof. Kirsty Penkman an der University of York in England im Rahmen ihres EQuaTe-Projekts in den letzten Jahren verfeinertes Analyseverfahren der sogenannten Aminosäure-Racemisierung. Dieses biochemische Analyseverfahren macht sich den Umstand zunutze, dass Aminosäuren in zwei spiegelbildlichen Formen auftreten können: linksdrehend und rechtsdrehend, basierend auf der Anordnung der Molekülbindungen. In lebenden Organismen dominiert deutlich die linksdrehende L-Form. Nach dem Tod eines Organismus findet über den Prozess der Racemisierung eine langsame Angleichung der Konzentration der Molekülbindungen mit L-Form statt, sie wird also in die rechtsdrehende D-Form umgewandelt, bis beide Formen in gleichen Anteilen vorliegen. Damit lässt sich aus dem Verhältnis von L- und D-Formen auf das Probenalter schließen.
In Schöningen wurde der Grad der Racemisierung aus den Verschlusskapseln kleiner Süßwasserschnecken der Gattung Bithynia ermittelt. Dafür wurden die sogenannten Opercula, deckelartige oder plattenartige Strukturen, die die Schnecken vor Austrocknung schützen, untersucht. In diesen Kalkverbindungen können sich Aminosäuren über Jahrtausende erhalten. Die im Rahmen der jetzt vorgelegten Studie untersuchten Proben stammen aus Sedimentblöcken, die im Zuge erster, großflächiger Ausgrabungen in Schöningen geborgen worden waren. Weiteres Probenmaterial, dessen Racemisierung in der aktuellen Studie untersucht wurde, umfasst Pferdezähne und die Schalen kleiner Muschelkrebse, die zusammen das vergleichsweise junge Alter des Fundplatzes unterstreichen.
Beitrag zum Verständnis der menschlichen Evolution
Der jüngere Altersansatz schmälert die Bedeutung der Schöninger Funde in keiner Weise. Vielmehr betonen die neuen Befunde den Beitrag der Fundstelle für das Verständnis der menschlichen Verhaltensevolution. Mit dem korrigierten Alter ist Schöningen nun in die Mittlere Altsteinzeit, das Mittelpaläolithikum, und die Zeit früher Neandertaler zu stellen. Abseits der Speere sticht auch der Nachweis der Jagd an diesem Fundplatz gegenüber älteren Fundplätzen hervor. Über den gesamten Jahreszyklus verteilt waren in Schöningen entlang des Ufersaums eines ehemaligen Sees wiederholt kleinere Gruppen von Pferden erlegt worden – insgesamt mehr als 50 Tiere, wie im Rahmen eines vorausgegangenen Projekts des MONREPOS Archäologischen Forschungszentrums und Museums für menschliche Verhaltensevolution, einem bei Neuwied gelegenen Standort des LEIZA, nachgewiesen werden konnte.
Die spezialisierte Bejagung vornehmlich einer Tierart ist in ganz Europe erst seit rund 200.000 bis 250.000 Jahren belegt. Mit der jetzt vorliegenden Datierung reiht sich Schöningen in verschiedene Nachweise anderer Fundstellen ein, die eine markante Steigerung der Jagdbefähigung erkennen lassen. Nach Auskunft der Autoren der Studie war die spezialisierte Bejagung kleinerer Gruppen vornehmlich einer Tierart erfolgversprechender als andere Jagdstrategien. Auch lassen diese Befunde auf wohlkoordinierte Jagdtrupps schließen, in denen die teilnehmenden Individuen aufeinander abgestimmte, klar definierte Aufgaben übernahmen, um den erfolgreichen Ausgang der Jagd zu gewährleisten. Der Grad beziehungsweise die "Qualität" menschlicher Kooperation erreichte vor 200.000 Jahren offenbar ein neues, höheres Niveau.
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