Wer mehreren benachteiligten Gruppen angehört, hat es schwerer, soziale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen – oft überproportional schwerer. Eine neue Studie zeigt, wie sich soziale Nachteile nicht nur addieren, sondern gegenseitig verstärken können.
Warum haben manche Menschen mehr Kontakte, mehr Unterstützung, mehr Möglichkeiten – und andere deutlich weniger? Liegt das an individuellen Entscheidungen oder vor allem an strukturellen Unterschieden?
Für Mitglieder einer benachteiligten sozialen Gruppe ist es schwieriger, soziale Verbindungen zu knüpfen; wer gleich mehreren benachteiligten Gruppen angehört, hat es unverhältnismäßig schwerer – das zeigt eine aktuelle Studie des Complexity Science Hub (CSH) und der TU Graz, die in Science Advances veröffentlicht wurde. Unterschiede in der Anzahl sozialer Beziehungen zwischen Gruppen lassen sich nicht einfach als Summe einzelner Diskriminierungen beschreiben. „Vielmehr können sie sich potenzieren, wenn mehrere Benachteiligungen zusammentreffen“, erklärt Studienautor Samuel Martin-Gutierrez.
Um zu verstehen, wie sich verschiedene Identitätsmerkmale – etwa Geschlecht und Herkunft – auf soziale Netzwerke auswirken, entwickelten die Forschenden ein mathematisches Modell und testeten es mit Freundschaftsdaten von rund 40.000 US-amerikanischen Schüler:innen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Nachteile bei sozialen Beziehungen oft auf unerwartete Weise auftreten, wenn mehrere Identitätsmerkmale zusammenwirken“, erklärt Fariba Karimi, Leiterin der Forschungsgruppe Algorithmic Fairness am Complexity Science Hub und Professorin an der TU Graz.
GLEICH UND GLEICH GESELLT SICH GERNE
Unsere sozialen Netzwerke entstehen nicht zufällig. Wer wir sind – etwa unser Geschlecht, unsere Herkunft und unsere sozioökonomische Situation – beeinflusst stark, mit wem wir uns umgeben. Wir neigen dazu, Beziehungen zu Menschen einzugehen, die uns ähneln. Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen Homophilie.
RANDGRUPPEN
Auf die gesamte Gesellschaft übertragen bedeutet das: Wenn nun bestimmte Gruppen häufiger untereinander vernetzt sind – und gleichzeitig besser an zentrale, einflussreiche Teile des Netzwerks angebunden sind –, haben sie besseren Zugang zu Informationen und gegenseitiger Unterstützung – und letztlich zu mehr Chancen.
Benachteiligte Gruppen hingegen bleiben oft am Rand des gesellschaftlichen Netzwerks. Sie haben weniger Verbindungen zu zentralen Elementen des Netzwerks und ihre Kontakte sind häufig selbst weniger gut vernetzt, wodurch sie weniger Zugang zu Informationen über Möglichkeiten haben, etwa auf dem Arbeitsmarkt. „Wenn sich Mehrheitsgruppen bevorzugt untereinander vernetzen, entsteht eine strukturelle Unsichtbarkeit für Minderheiten“, so Martin-Gutierrez, der die Studie während seiner Zeit am CSH durchgeführt hat.
MEHRFACH BENACHTEILIGT
Was bedeutet das für Menschen, die gleich mehreren benachteiligten Gruppen angehören – zum Beispiel Frauen mit Migrationshintergrund aus einkommensschwachen Familien? „Wenn eine Person mehreren benachteiligten Gruppen gleichzeitig angehört, addieren sich die Auswirkungen nicht nur – sie können sich auf nichtlineare und manchmal unerwartete Weise verstärken“, erklärt Martin-Gutierrez.
Diese sogenannten intersektionalen Ungleichheiten wurden bislang wissenschaftlich wenig untersucht, da der Fokus stark darauf lag, wie einzelne Identitätsmerkmale die Bildung sozialer Beziehungen beeinflussen. „Das Neue an unserer Studie ist, dass wir zeigen, wie sich mehrere Merkmale gleichzeitig auf soziale Netzwerke auswirken“, erklärt Martin-Gutierrez. „Abhängig von Gruppengröße, Verbindungspräferenzen und Korrelationen zwischen den Merkmalen, entstehen ganz neue, komplexe Muster von Vor- und Nachteilen.“
REALE SCHULDATEN AUS DEN USA
Um diese intersektionalen Ungleichheiten messen zu können, entwickelten die Forschenden ein Netzwerkmodell, das sie mit realen Schuldaten von über 40.000 US-amerikanischen Schüler:innen aus den Jahren 1994/95 testeten. Die vom Modell vorhergesagten sozialen Ungleichheiten stimmten dabei zu 92 % mit den tatsächlich beobachteten Mustern überein.
Die realen Schuldaten umfassen Freundschaftsnominierungen der Schüler:innen selbst (die Schüler:innen gaben an, wen sie als ihre Freund:innen betrachten), sowie Informationen über Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Schulstufe an der Highschool.
Die Ergebnisse machen deutlich, wie sich Mehrfachdiskriminierung auswirken kann: Obwohl Mädchen im Durchschnitt mehr soziale Verbindungen haben als Buben, bildeten schwarze Mädchen eine Ausnahme und hatten zusammen mit asiatischen Buben am wenigsten Freundschaften – weniger als schwarze Buben und deutlich weniger als weiße Mädchen. Bei schwarzen Mädchen überlagert demnach der strukturelle Nachteil, schwarz und weiblich zu sein, den Vorteil, dass Mädchen insgesamt häufiger als Freund:innen nominiert wurden als Buben.
Weiße Mädchen wiederum hatten am meisten soziale Kontakte: sie waren Teil der ethnischen Mehrheit, und Mädchen wurden insgesamt häufiger nominiert als Buben, was ihnen verstärkte strukturelle Vorteile verschaffte. Weiße Buben profitierten immer noch von der ethnischen Mehrheitszugehörigkeit, was im Vergleich zu schwarzen Buben insgesamt zu einer höheren Beliebtheit führte. „Besonders spannend war, dass schwarze Buben in bestimmten Schulstufen trotz zweifacher struktureller Benachteiligung besser vernetzt waren als andere“, so Martin-Gutierrez. „Das ist ein Beispiel für emergente Intersektionalität: Unerwartete Vorteile entstehen durch komplexe Zusammenspiele von Gruppenpräferenzen, Gruppengrößen und Kontexteffekten“, fügt Karimi hinzu.
„Solche Effekte sind bisher in vielen Studien verborgen geblieben, weil nur einzelne Merkmale untersucht wurden“, so Karimi. „Unsere Ergebnisse zeigen, wie wichtig es ist, Menschen in ihrer ganzen Komplexität zu betrachten.“ Diese neue Methode könne somit dabei helfen, Bildungseinrichtungen, soziale Plattformen oder politische Programme so zu gestalten, dass strukturelle Benachteiligungen früh erkannt und ausgeglichen werden können, betonen die Forschenden.
Service
ÜBER DIE STUDIE
Die Studie "Intersectional inequalities in social ties" von Samuel Martin-Gutierrez, Mauritz N. Cartier van Dissel und Fariba Karimi wurde kürzlich in Science Advances veröffentlicht (doi: 10.1126/sciadv.adu9025).
Sie ist Teil des vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanzierten Projektes NetFair und soll zur Entwicklung von Fairness-Tools für soziale Netzwerke beitragen.
Unterstützt wurde diese Studie zudem von Projekten MAMMOth (Multi-Attribute, Multimodal Bias Mitigation in AI Systems) und ESSENCSE funded by FFG.