Mit zunehmendem Alter verliert der Darm seine Fähigkeit, sich nach einer Schädigung vollständig zu regenerieren. Ein internationales Forschungsteam unter Mitwirkung des Leibniz-Instituts für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena und der Universität Turin hat nun herausgefunden, dass Polyamine, kleine Moleküle, die im Körper selbst produziert werden, dabei eine entscheidende Rolle spielen. Durch die gezielte Aktivierung des Polyaminstoffwechsels vor einer Schädigung gelang es den Forschenden, die Regenerationsfähigkeit alternder Darmzellen in einem Mausmodell wiederherzustellen. Ein möglicher neuer Ansatz zur Behandlung altersbedingter Gewebeschäden.
Jena/Turin. Der Darm ist eines der am stärksten regenerierenden Gewebe unseres Körpers. Doch mit zunehmendem Alter kommt es zu verschiedenen Veränderungen, die in Summe seine Regenerationsfähigkeit beeinträchtigen. Infolgedessen wird der Darm zunehmend anfälliger für Entzündungen und Infektionen, und Heilungsprozesse verlangsamen sich. Dies führt bei älteren Menschen häufig zu Verdauungsproblemen und einer verzögerten Genesung nach langfristiger Medikamenteneinnahme. Die Ursache dafür ist die verminderte Fähigkeit des Darmepithels, sich nach einer Schädigung rasch zu regenerieren. Doch warum verliert der Darm mit zunehmendem Alter sein Regenerationspotenzial – und lässt sich dieser Prozess möglicherweise wieder umkehren?
Ein internationales Forschungsteam aus Deutschland, Italien und den USA unter der Leitung von Dr. Alessandro Ori, ehemaliger Forschungsgruppenleiter am Leibniz-Institut für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena, hat in einer jetzt in „Nature Cell Biology“ veröffentlichten Studie diese Fragen genauer untersucht.
Alternder Darm aus dem Gleichgewicht
Die Forschenden fanden heraus, dass bei älteren Mäusen während der Darmregeneration das empfindliche Gleichgewicht zwischen Proteinsynthese, -faltung und -abbau (Proteostase) gestört ist. Infolgedessen sammeln sich in den alten Darmzellen vermehrt fehlerhafte oder „defekte“ Proteine an. Während die Zellen versuchen, gleichzeitig das geschädigte Gewebe zu regenerieren, führt die zusätzliche Ansammlung von Proteinen zu erheblichem Stress bei ihnen, was wiederum die Regenerationsfähigkeit der Zellen beeinträchtigt.
„Durch die Analyse von Proteinen und Stoffwechselprodukten im Darmgewebe sowie durch Experimente, die zeigen, wie sich der Darm nach einer Schädigung durch 5-Fluorouracil (ein Chemotherapeutikum) erholt, konnten wir zeigen, dass die verringerte Regenerationsfähigkeit älterer Darmzellen keine unvermeidbare Folge des Alterns ist. Vielmehr steht sie in direktem Zusammenhang mit einer Störung der Proteostase“, erklärt Dr. Ori.
Polyamine als Schlüssel zur Regeneration
Der Vergleich der Regenerationsfähigkeit in jungen und alten Mäusen zeigte, dass nach einer Schädigung nur im gealterten Darm typische Anzeichen von Proteostase-Stress und erhöhte Polyaminspiegel beobachtet wurden. Polyamine – wie etwa Spermidin und Putrescin – sind kleine, positiv geladene Moleküle, die an vielen zellulären Prozessen beteiligt sind, zu denen sowohl das Zellwachstum und die Zellteilung als auch die Regulierung der Proteostase gehören.
In den Experimenten zeigte sich, dass alte Mäuse nach einer Darmschädigung besonders hohe Polyaminwerte aufwiesen, wahrscheinlich, um die Proteinhomöostase zu verbessern und der entstandenen Schädigung entgegenzuwirken. „Wird der Polyaminstoffwechsel wieder aktiviert, beispielsweise durch eine diätetische Intervention oder durch die direkte orale Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln, dann verbessert sich die Proteinhomöostase und die Regeneration des Darmepithels wird wieder beschleunigt“, berichten Dr. Alberto Minetti und Dr. Omid Omrani, die Erstautoren der Studie. „Unsere Daten deuten darauf hin, dass der alternde Darm auf molekularer Ebene weiterhin reparaturfähig bleibt, er benötigt nur den richtigen molekularen Auslöser, um seine Regenerationsfähigkeit wieder in Gang zu bringen.“
Ernährung und Polyamine als neuer therapeutischer Ansatz?
Besonders spannend ist, dass sowohl durch eine kurze Diät mit anschließender zweitägiger Nahrungsaufnahme als auch durch eine direkte Zugabe von Polyaminen der Polyamin-Stoffwechsel bereits vor einer Schädigung aktiviert und so die Regenerationsfähigkeit des Darms bei älteren Mäusen wiederhergestellt werden kann. Dagegen verschlechterte sich die Darmregeneration deutlich, wenn man diesen Stoffwechselweg gezielt blockierte.
Diese Erkenntnis könnte weitreichende Folgen haben: Durch Polyamine oder eine polyaminreiche Ernährung bestünde die Möglichkeit, die Darmregeneration bei älteren Menschen nach Operationen, Infektionen oder Chemotherapien gezielt zu verbessern. Möglicherweise lassen sich ähnliche Mechanismen auch auf andere alternde Gewebe wie Haut oder Leber übertragen, wodurch sich neuartige Wege eröffnen, alternsbedingten Funktionsverlusten entgegenzuwirken.
„Wir sehen darin einen vielversprechenden Ansatz, um die Selbstheilungskräfte des Körpers im Alter zu reaktivieren“, erklärt Prof. Francesco Neri von der Universität Turin, Italien. „Polyamine wirken als molekulare Regulatoren, die helfen, das zelluläre Gleichgewicht wieder herzustellen.“
Perspektiven für die Alternsforschung
Als nächster Schritt wird es wichtig sein, die Sicherheit und die potenziellen Vorteile einer Aktivierung des Polyaminstoffwechsels zur Förderung der Geweberegeneration sorgfältig zu prüfen, und auch mögliche Risiken wie ein erhöhtes Krebsrisiko zu bewerten. Gezielte polyaminreiche Ernährung oder pharmakologische Interventionen könnten auf diese Weise künftig dazu beitragen, altersbedingte Gewebeschäden zu behandeln oder sogar zu verhindern.
„Altern ist kein unumkehrbarer Prozess“, fasst Dr. Ori zusammen. „Wenn wir verstehen, wie Zellen ihr Gleichgewicht verlieren – und wie wir es wiederherstellen können –, können wir das Altern vielleicht nicht aufhalten, aber wir können seine Auswirkungen auf unseren Körper deutlich abschwächen.“
Publikation
Polyamines sustain epithelial regeneration in aged intestines by modulating protein homeostasis. Alberto Minetti, Omid Omrani, Christiane Brenner, Feyza Cansiz, Shinya Imada, Jonas Rösler, Saleh Khawaled, Gabriele Allies, Sven W. Meckelmann, Nadja Gebert, Ivonne Heinze, Norman Rahnis, Jing Lu, Katrin Spengler, Mahdi Rasa, Emilio Cirri, Regine Heller, Omer Yilmaz, Alpaslan Tasdogan, Francesco Neri, Alessandro Ori, Nature Cell Biology,
www.nature.com/articles/s41556-025-01804-9
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