FRANKFURT. „Die Goethe-Universität ist sich der großen Ehre bewusst, von Jürgen Habermas mit seinem Vorlass bedacht zu werden. Er würdigt seine Alma Mater damit als seine geistige Heimat. Dass er die Forschung zu seinem Werk gern in Frankfurt verorten will, dem Schwerpunkt seines Werdens und Wirkens, ist ein Nachweis für das enge Vertrauensverhältnis und die Wertschätzung, die Herr Habermas unserer Universität und unserem wissenschaftlichen Anspruch entgegenbringt“, sagt Universitätspräsident Prof. Enrico Schleiff über den Neuzugang in der Universitätsbibliothek. „Die Frankfurter Schule, die Kritische Theorie und das Werk von Jürgen Habermas gehören zu den wichtigsten Bestandteilen im Selbstverständnis unserer Universität: Wir suchen in disziplinärer Vielfalt nach Antworten auf gesellschaftliche Fragen.“
Übergeben wurde der zweite Teil des Vorlasses – so bezeichnet man ein zu Lebzeiten an eine Institution übergebene Materialsammlung einer prominenten Persönlichkeit – an die Frankfurter Universitätsbibliothek bereits im Februar 2025; zeitnah soll die Erschließung des umfangreichen Bestandes beginnen. Die Materialien stammen aus der Zeit von 1994 bis in die Gegenwart. Die Sammlung schließt damit nahtlos an den ersten Teil des Vorlasses an, der bereits 2011 an die Universitätsbibliothek übergeben wurde und bis ins Jahr 1994 reicht, dem Jahr von Habermas’ Emeritierung. Im Unterschied zum ersten Teil handelt es sich diesmal vor allem um digital gespeicherte Dokumente.
Enthalten sind Dokumente zu Habermas’ umfangreichem politischen Engagement, darunter Stellungnahmen zu Politik, Europa oder Religion. Außerdem seine nach 1994 entstandenen wissenschaftlichen Arbeiten sowie Materialien zu deren Entstehung, Verlagskorrespondenzen zu seinen Werken und deren Übersetzung, aber auch seine gesamte Korrespondenz mit zum Teil bedeutenden Persönlichkeiten, zum Beispiel mit Verleger Siegfried Unseld, dem Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler und dem damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi. Übergeben wurden zudem 90 Aktenordner mit Briefen, zudem mehrere Kästen mit Post zu runden Geburtstagen und anderen Anlässen. Habermas’ eigene Briefe sind seit 1994 auf dem privaten Rechner des Philosophen abgelegt, welcher ebenfalls übergeben wurde. Dort finden sich auch unveröffentlichte Typoskripte und Textversionen seiner nach der Emeritierung entstandenen Werke.
2011 hatte Jürgen Habermas ein erstes Kompendium an die Universitätsbibliothek übergeben. Für die sachgerechte Aufarbeitung der umfangreichen und komplexen Materialsammlung war damals eigens eine Projektstelle geschaffen worden. In enger Abstimmung mit Jürgen Habermas selbst wurden die Schriften erschlossen und im Archiv nutzbar gemacht – allerdings streng reglementiert. Gut zwei Jahre hatten die Arbeiten gedauert.
„Der zweite Teil des Vorlasses ist weit umfangreicher als der erste, die Erschließung wird diesmal voraussichtlich länger dauern“, sagt Dr. Mathias Jehn, Leiter der Abteilung Kuratieren, Fachinformation und Vermittlung an der Frankfurter Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg. „In seiner Geschlossenheit im Anschluss an den ersten Teil einerseits und in seiner Offenheit hinsichtlich internationaler Vernetzungen andererseits ist dieser Teil des Vorlasses noch weit wertvoller als der erste Teil. Es handelt sich um ein hochrangiges, identitätsstiftendes Bibliotheksgut für die Wissenschaft und das kulturelle Gedächtnis.“
Das für die Bearbeitung des komplexen, anspruchsvollen und umfangreichen Materials fachlich und technisch erforderliche Know-how sei an der UB vorhanden. Sowohl analoge als auch digitale Archivalien werden nun erschlossen, konservatorisch gesichert und fachgerecht gelagert – vor allem aber mit dem hauseigenen Archivverwaltungssystem Arcinsys systematisch erfasst. Das Verzeichnis wird außerdem durch Querverweise zur zentralen Nachlassdatenbank Kalliope ergänzt, in der auch Materialien und Nachlässe im deutschsprachigen Raum nachgewiesen werden, zum Beispiel die Nachlasssammlungen des Literaturarchivs Marbach. „Die Vernetzung aller Informationen wird für die vielfältige und differenzierte Wahrnehmung und Würdigung von Jürgen Habermas eines Tages von hohem Wert sein. Gerade die Korrespondenz macht das internationale Netzwerk von Beziehungen deutlich, in dem Habermas agiert“, sagt Mathias Jehn.
Allerdings werden die Bestände auch nach ihrer Erschließung nicht ohne weiteres frei zugänglich sein. Zu Lebzeiten hat Habermas als Urheber selbst das letzte Wort, ebenso die beteiligten Personen, zum Beispiel Briefpartner. Das enge Verhältnis zu Jürgen Habermas, so Mathias Jehn, habe in der Vergangenheit jedoch dazu geführt, dass die Benutzung für wissenschaftliche Zwecke auf unkomplizierte Weise ermöglicht werden konnte. Nach dem hessischen Archivgesetz bestehen auch posthum bestimmte Schutzfristen, und ein besonderes Interesse muss nachgewiesen werden.
Zur Übernahme angeboten hat Habermas außerdem seine gesamte Privatbibliothek – allerdings erst für die Zeit nach seinem Tod.
Jürgen Habermas, Jahrgang 1929, hat Philosophie, Geschichte, Psychologie, Literatur und Ökonomie in Göttingen, Zürich und Bonn studiert. 1956 kam er als Forschungsstipendiat am Institut für Sozialforschung mit den Protagonisten der der Frankfurter Schule in Kontakt, insbesondere mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse. Nach Stationen in Marburg, Bonn und Heidelberg kehrte er 1964 nach Frankfurt am Main zurück, wo er als Nachfolger von Max Horkheimer eine Professur für Philosophie und Soziologie übernahm. Diese Position hatte er bis 1971 inne. In dieser Zeit prägte er maßgeblich die zweite Generation der Kritischen Theorie. 1983 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1994 lehrte er erneut an der Goethe-Universität und hatte eine Professur für Philosophie mit dem Schwerpunkt Sozial- und Geschichtsphilosophie inne. Habermas ist einer der weltweit meistrezipierten Philosophen und Soziologen der Gegenwart.
Die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg zählt mit ihren umfangreichen Beständen und Sammlungen zu den bedeutendsten wissenschaftlichen Bibliotheken Deutschlands. Sie vereinigt in sich die Funktionen einer Universitätsbibliothek mit zahlreichen Landesaufgaben, einer wissenschaftlichen Bibliothek für die Stadt Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet und einer Schwerpunktbibliothek innerhalb der überregionalen Literatur- und Informationsversorgung.